Abgesehen von dem Gefühl des Blockiertseins gab es noch eine andere Sache, die für mich sehr belastend und gleichzeitig unbegreiflich war. Ich fühlte mich oft wie zwei Personen in einer. Natürlich ist selektiver Mutismus keine multiple Persönlichkeitsstörung. Ich wusste sehr wohl, wer ich bin und die Vorlieben und Gedanken waren auch exakt die gleichen. Wenn ich es aber beschreiben soll, hat es sich für mich genau so angefühlt. Mit dem Unterschied, dass sich die zwei Personen nicht grundlegend fremd waren. Sondern es war eine stumme, starre Person und eine sehr lebendige Person. Das hat sich aber so verschieden für mich angefühlt, dass ich es als Betroffene genau so beschreibe. Ich passte einfach nicht zusammen.
Die Kluft zwischen Schweigen und Sprechen
Es gab eine riesige Kluft in mir zwischen meiner vertrauten Umgebung und einer fremden Umgebung. Und dabei kam es noch nicht mal unbedingt auf einzelne Personen an. Es gab auch sehr wenige, die meine zwei „Persönlichkeiten“ kennen gelernt haben. Zum Beispiel habe ich mit bestimmten Personen gesprochen, wenn der Ort ein anderer war. Es kam also vielmehr auf die Gesamtsituation an.
Natürlich habe ich so konsequent wie möglich vermieden, dass jemand die schweigsame und laute Person in einer kennen lernen durfte. Die meisten kannten also entweder nur die Schweigende oder nur die Laute. Denn es ist sehr unangenehm, wie grundverschieden das war.
In der Therapie lernen, zusammenzupassen
In einer Therapie geht es also nicht nur darum, den Mutismus als reines Sprachproblem zu überwinden. Es geht um so viel mehr. Deshalb empfinde ich eine Psychotherapie ab einem gewissen Alter immer noch als die richtige Therapie bei Mutismus. Denn was ist, wenn man nun in immer mehr Situationen sprechen kann? Was macht man damit? Und wohin geht man mit all den neuen Sorgen, Problemen und Ängsten? Mit jedem gesprochenen Wort fing das Überwinden von Mutismus erst richtig an. Ich musste also zusammenpassen. Mich kennen lernen. Und das war nicht so einfach.
Selbst heute passe ich immer noch nicht exakt zusammen. Wahrscheinlich kennt das jeder in abgeschwächter Form, weil man sich an verschiedenen Orten oft unterschiedlich gibt. Bei mir gibt es aber immer noch die Trennung zwischen bekannt und fremd, egal welche Personen eigentlich anwesend sind. Ich habe zum Beispiel sehr ungern Besuch, weil man immer noch merken würde, dass an mir etwas anders wäre, wenn ich nicht aktiv dagegen steuere und mich bremse. Und zuhause möchte ich mich eigentlich nicht bremsen müssen. Deshalb erleben das nur sehr wenige Menschen.
Nun endlich hergefunden.
Danke dir für Wort und Bild. Ich begebe mich nach 15 Jahren auch wieder in Therapie, sonst fresse ich mich am Ende doch noch selbst.
Pass auf dich auf.
Ich versuche das auch.
🙏
Ach ja… Reineke.oo lässt grüßen. ; )
Wie schön, dass du hergefunden hast! <3