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Vom Nichthabenkönnen

Er las und las und ich wollte gar nicht wissen, wo genau er war. Der Zettel, den ich ihm auf den Tisch gelegt hatte, war lang. Vielleicht war er gerade bei der Hälfte. Dann würde er gleich das Nicht-Haben-Können lesen. Wie weh das tut, wenn man jeden Tag das sehen muss, was man nie haben kann. Nämlich Menschen. Menschen für’s Herz.

Wahrscheinlich würde er es nicht verstehen. Weil er wusste, dass ich mit einigen Mitpatienten auch Briefe schrieb. Und er wusste, dass ich mit einigen ein bisschen sprechen konnte. Vielleicht hätte ich es noch besser erklären sollen, dachte ich. Ihm schreiben sollen, dass schreiben so entsetzlich weh tut, weil es einfach nicht das gleiche ist. Weil es da nie dieses Zwischenmenschliche gibt. Diese Nähe, die man braucht. Ich hätte deutlicher schreiben müssen, wie entsetzlich weh das alles tut. Denn wer kann es sich schon vorstellen? Jeder hat es doch, ganz automatisch, und keiner ist sich dessen wahrscheinlich überhaupt bewusst, was er da Wertvolles hat.

«Ich verstehe das», sagte er plötzlich, lag die Zettel beiseite und machte dabei ein Gesicht, als sei ihm jemand auf den Fuß getreten.
Eigentlich war er so gut, dachte ich. Er war der perfekte Therapeut und ich? Ich hatte mal wieder eine Chance, die ich nie nutzen könnte. Es saß direkt vor mir und ich würde es nie greifen können. Nie haben können. Auch dieses nicht. Nie.
Es war vorbei. Ich konnte nicht mehr atmen. Die Luft war weg. Ich musste weg. Einfach nur weg. Mein Körper stand auf und rannte. Rannte einfach los. In die Ecke zwischen Schrank und Mülleimer. Ganz klein. Dreck. Gottverdammter Scheißdreck.

Ein bisschen dauerte es, bis es an der Tür klopfte. Er war es.
Und dann saß er da. Neben mir auf dem Boden. Ein erwachsener Mann, Mitte fünfzig saß neben seiner Patientin auf dem Boden.
Was sollte das? Da waren doch Grenzen und das war doch zu nah. Viel zu nah. Warum sitzt er hier?
Er scherzte, dass er schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf dem Boden gesessen hatte.

Er saß wegen mir auf dem Boden. Er saß da und war da und ich konnte es nicht nehmen. Konnte kein einziges Wort sagen, obwohl ein Gefühlsausbruch das einzige gewesen wäre, was jetzt richtig war. Kein einziges Wort kam über meine Lippen, dabei hätte so viel kommen müssen. So viel. Das war wie ein Handreichen und sie nicht nehmen können. So war es.

Geh doch bitte einfach weg, schrie ich innerlich. Bitte, bitte. Geh weg. Weil schon wieder. Alles lag vor mir und ich musste nur zugreifen. Eine Sache von Millimetern wäre es gewesen. Alles tanzt vor meiner Nase herum und ich kann es nicht haben. Nie, nie, nie!

Oh Gott, tat das weh. Was waren das bloß für Schmerzen. Solche Schmerzen kann doch kein Mensch aushalten. Ich zerbrach. Zersplitterte und brach in Millionen Teile. Und das wusste er. Trotzdem blieb er und legte die Hand ein bisschen und sacht auf meine.

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