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Herr V. in 10 Jahren

Ich hatte mir das oft in Gedanken ausgemalt. Meist dann, wenn ich mich mal wieder irgendwo in ein gemütliches Eckchen in meinen Kopf flüchtete. Mein halbes Leben befand sich damals in meinem Kopf.

Es hätte ja irgendwann ein Ende geben müssen. Zwar keines, das mit seinem Tod endete, aber eben ein normales Therapieende. Deshalb hatte ich mir oft vorgestellt, dass wir uns irgendwann wieder sehen könnten. Das wäre wahrscheinlich nie passiert, aber es tat gut. Vielleicht nach zehn Jahren in einer Stadt in einem Café. Er in Rente, das hätte so ungefähr gepasst, und ich erwachsen. Nicht so erwachsen, wie man laut Definition mit Anfang zwanzig ist, sondern so erwachsen wie mit Anfang dreißig. Eine erwachsene Frau mit beiden Beinen irgendwo.

Vielleicht hätte er mich auf den ersten Blick nicht erkannt. Oder er hätte zweimal hingucken müssen, ob er richtig guckt. Denn ich wäre nicht mehr wie früher gewesen. Nicht mehr diejenige in Jeans und T-Shirt oder Pullover. Vielleicht hätte ich ein Kleid angehabt. Oder irgendetwas anderes, das insgesamt nicht sehr auffällig ist, aber eben auch schon lange nicht mehr versucht, den Menschen darin zu verstecken. Es wäre etwas zum Angucken gewesen. So, wie man Frauen anguckt. Und nicht zum Übersehen.

Wir hätten in einem ruhigen Café sitzen können. Ruhig, weil ich es zum Unterhalten immer noch leise mag. Wahrscheinlich wäre ich mit dem Auto gefahren und er hätte auch später danach gefragt. Aber vermutlich wäre ich immer noch nicht ganz bis zum Café mit dem Auto gefahren. Ich hätte es dort abgestellt, wo ich mich gut auskenne. Den Rest wäre ich gelaufen. Und wenn er nach dem Auto gefragt hätte, hätte ich ihm gleich erzählt, wie toll das neue Auto ist und dass es gefahren werden muss. Zwar immer noch mit Umwegen, aber es muss. Das geht nicht mehr anders. Dann hätte er gegrinst. Vielleicht sogar bis über beide Ohren, weil er sich noch gut daran erinnern konnte, wie schwierig das Autofahren für mich war.

Irgendwann hätten wir einen Kaffee bestellt. Vielleicht auch ein Stück Kuchen. Und da ich stark und mit beiden Beinen irgendwo stehend wirken wollte, hätte ich gefragt, ob es auch eine Milchalternative gibt. Damit zumindest der Kaffee vegan ist. Vielleicht wäre das auch gleich ein Gesprächsthema gewesen. Denn, dass ich kein Fleisch mehr esse, wusste er auch nicht. Und so taff, wie ich inzwischen war, hätte ich irgendwann gefragt, wie es ihm heute auf einer Skala von eins bis zehn geht. Wahrscheinlich hätte ich schneller lachen müssen, als mir lieb wäre. Und ich hätte tatsächlich gelacht. Laut gelacht. Ohne, darüber nachdenken zu müssen, wie man laut lacht. Welche Geräusche man dabei macht und ob das gut und richtig so ist. Es hätte einfach funktioniert. So, als wäre das schon immer so gewesen und aus vollem Herzen. Ich hätte gehofft, er würde mir antworten und wäre nicht nur neugierig, bei welcher Zahl ich bin. Wenn nicht, hätte ich Spielchen gespielt und ihm meine Zehn nur verraten, wenn er es auch gesagt hätte. Zehn, weil ich glücklich und dankbar für diesen Moment gewesen wäre.

Wahrscheinlich hätten wir auch über meinen Arbeitsalltag geredet. Darüber, wo ich arbeite und was meine Aufgaben sind. Ich hätte ihm erzählt, dass ich meine Stärken voll und ganz ausschöpfen kann und meine Schwächen oft keine Rolle spielen. Nur manchmal ein bisschen. Aber das ist nicht schlimm, da ich schon lange mit meinen Stärken überzeugt hatte. Wahrscheinlich hätten wir auch darüber geredet, wo ich wohne und, dass es inzwischen weit entfernt ist, weil ich in der größten Stadt im Bundesland arbeite. Vielleicht hätte er gesagt, dass er es immer wusste. Und ich hätte verlegen gelächelt und kurz darauf einfach weiter geplappert, weil ich ja noch gar nicht fertig erzählt hatte.

Irgendwann hätten wir uns vielleicht auch an die Zeit zurück erinnert. Zum Beispiel an den Mann am Fahrkartenschalter, weil es eine der wenigen Situationen war, die wir nicht in seinem Büro hatten. Wir hätten wieder gelacht, wie damals, weil der Fahrkartenverkäufer fragte, was denn Herr V. von mir wollte. Natürlich war es seltsam. Eine junge Frau wird von einem Mann dazu gedrängt, eine Fahrkarte zu kaufen. Und am Ende wären wir wieder zu dem Ergebnis gekommen, dass es sehr aufmerksam war und viel mehr Menschen so reagieren sollten.

Wir hätten geredet und geredet und die Zeit wäre viel zu schnell verflogen. So ähnlich hätte das sein können. Ich bin also hier. Könnte mich ins Auto setzen und zum Café fahren.

Und Herr V. nicht.

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