Für mich ist Mutismus nicht heilbar. Weil heilbar ein großes Wort ist. Für mich ist Heilung abgeschlossen. Man ist wieder gesund. Der vorherige Zustand ist wieder da. Kann man also wirklich von einer psychischen Störung geheilt sein? Geht das? Für mich nicht. Ich denke da zu körperlich. Von einer Infektion kann man geheilt werden. Von einer Autoimmunerkrankung aber nicht. Die Hintergründe im Körper (oder übertragen: im Kopf) hat man ein Leben lang.
Für mich kann man mit psychischen Erkrankungen umgehen. Damit leben, sodass die Einschränkungen weniger werden. Grundsätzlich finde ich also Heilung ein unsägliches Wort in Zusammenhang mit psychischen Störungen – egal, welche es ist. Definitionsgemäß habe ich keinen selektiven Mutismus mehr. Ich habe ihn also überwunden. Geheilt fühle ich mich aber nicht.
Selektiver Mutismus ist aber therapierbar, sodass man ihn überwinden kann
Für mich ist Mutismus also „nur“ therapierbar und das ist eine ganze Menge. Es ist also keineswegs negativ gemeint, wenn ich schreibe, selektiver Mutismus ist für mich nicht heilbar. In meinem Erleben war und ist Mutismus nur mehr, als die reine Sprechblockade, die ihn definiert. Mehr als das Schweigen in bestimmten Situationen. All die Gedanken drumherum gehören für mich auch dazu. Und da in meinem Kopf immer noch merkwürdige ungesunde Dinge abgehen könne, fühle ich mich nicht geheilt. Werde ich wahrscheinlich auch nie. Vielleicht ist das bei Kindern anders.
Würde mich jemand analysieren, käme er wahrscheinlich zu dem Ergebnis, dass ich nur noch manchmal normale Schwierigkeiten mit dem Sprechen habe. Wenn es um’s Telefonieren geht zum Beispiel. Wie so viele andere introvertierte oder schüchterne Menschen auch. Für mich als Mensch mit Mutismushintergrund ist es aber nicht trennbar. Mag sein, dass der übriggebliebene Teil „normal“ ist. Trotzdem erinnert mich jede Situation daran, dass es mal ganz anders war. Das ist eingebrannt und lässt sich für mich nicht abschütteln. Anders als die Infektion, die auskuriert ist.
Selektiver Mutismus ist also überwindbar. Im Endeffekt sogar gut, auch wenn ich das währenddessen natürlich absolut nicht so empfunden habe. Und zwar so weit, dass Betroffene nur noch „normale“ Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben können. Auch wenn ich das für mich ein wenig anders finde. Und vielleicht können Betroffene sogar auch keine Schwierigkeiten mehr haben.
Früher habe ich Mutismus gehasst. Aber es lässt sich schlecht etwas heilen, was ein Teil deiner Selbst ist.
Ich werde immer nervös sein, wenn ich unbekannten Situationen ausgesetzt bin.
Ich werde auch immer dem Drang widerstehen müssen, nur zu beobachten, obwohl meine Interaktion gefordert ist.
Und ich werde auch immer damit umgehen müssen, den dämlichen Blicken meiner Mitmenschen standzuhalten, ohne „rückfällig“ zu werden.
Aber man hat Techniken, um damit umzugehen. Das ist wohl das Los von einer Kommunikationsstörung. Ich finde, psychische Störung klingt zu harsch, denn die Psyche ist ziemlich gesund – vor allem, wenn ich mir so viele andere Menschen im Vergleich anschaue.
Das beste an ihm ist: Mutismus ist so lange unsichtbar, wie ich ihn kontrollieren kann.
Kontrolle trifft es ziemlich gut, denke ich.
Mutisten lieben Kontrolle. Denn damit kann ich die Vorteile nutzen, die er mir bringt: Hohe emotionale Intelligenz und Empathie. Charakterzüge, die selten und kostbar sind, in einer schnelllebigen Welt der Pandemie. Meist erkenne ich die Probleme anderer Menschen schneller als sie selbst. Oder schneller als meine eigenen. Aber diese Eigenschaft will ich nie hergeben, denn andere Lesen zu können, ist spaßig, selten und hilfreich.
Ich danke dir für deinen Kommentar. Ja, das stimmt. Störung ist kein gutes Wort für Mutismus. Für mich bringt er auch einige Charakterzüge mit sich, die ich nicht missen möchte. Die gut sind und so viel mehr als andere haben. Eigentlich ist es kein Heilungsprozess, sondern ein Lernen. Lernen, damit zu leben.
Alles Liebe
Hey Mara,
erstmal Danke, dass du deine Gedanken und Gefühle mit uns teilst.
Früher hatte ich auch viele Jahre lang Probleme mit dem Sprechen, also Mutismus, Kommunikationsstörung. Kein schönes Wort, wer möchte schon gerne als „gestört“ bezeichnet werden?
Mit 4 Jahren im Kindergarten fing bei mir alles an.
Nach einer 1 jährigen stationären Therapie mit 10/11 und mehreren Schulwechseln wurde der Mustismus bei mir gefühlt immer schwächer.
Die komplette Blockade war irgendwann nicht mehr da aber ich wusste in vielen Situationen nicht, was ich sagen soll. Soll ich überhaupt etwas sagen? Wie soll ich es formulieren? Wem soll ich es sagen? Dabei oft die schlimmsten Szenarien ausgemalt, wie die Leute reagieren könnten.
Mir fehlte die Übung, die Frames, welche (Re-)aktion in welcher Situation angemessen ist.
Mit den Schulwechseln und immer neuen Klassenkameraden wurde ich sicherer und lernte, wie ein erstes Kennenlernen, ungezwungene Gespräche gestaltet werden können. Zu meiner Erleichterung habe ich festgestellt, dass die allermeisten Menschen höflich und normal mit mir umgingen, keiner machte blöde Witze oder ließ mich auflaufen. Geholfen hat auch, dass in der Oberstufe niemand von meinem Mutismus wusste, anders als in der Grundschule und der Realschule, wo ich als die „Nichtsprechende“ präsentiert wurde.
Für die Leute da war ich einfach nur sehr ruhig und schüchtern.
So im Alter von 20 Jahre hat sich bei mir immer mehr eine „Scheiss drauf“- Mentalität entwickelt: so geht es ja nicht weiter, lieber irgendwas sagen, das erste was mir in den Sinn kommt, als zu schweigen.
Das kann peinlich und unangebracht sein aber so lernt man und entwickelt sich weiter, war mein Gedanke, denn das Label „schüchtern“ fand ich unpassend und war regelrecht beleidigt, wenn ich so genannt wurde.
In den folgenden Jahren konnte ich immer besser einschätzen, wie ich reagieren soll, mein Charakter hat sich im Vergleich zur Jugendzeit gefestigt. Viele schwierige Situationen, wie Smalltalk mit einer Gruppe oder telefonieren wurden mit den Jahren einfacher.
Ich kann behaupten, dass ich mich 25 Jahre nachdem ich aufgehört habe zu sprechen, nun nicht mehr von anderen Menschen in meinem Kommunikationsverhalten unterscheide.
@Zeporian ja das geht mir auch so, dass ich manchmal lieber Beobachter sein will als was dazu sagen zu müssen. Iregendwas zu sagen, nur um was gesagt zu haben, ist ja auch nicht zielführend.
Liebe Grüße
Lilly
Liebe Lilly, danke, dass du deine Geschichte hier teilst <3 Alles Liebe.